Biodiversitätsrat unterzeichnet Offenen Brief an die Wiener Stadtregierung

Knapp 30 Persönlichkeiten aus führenden Institutionen der Bereiche Umwelt, Religion, Wissenschaft und Kultur fordern einen Dialog auf Augenhöhe mit jungen Klimaaktivist:innen und guten Willen für alternative Lösungen für geplante Straßenbauprojekte.

Wien, 16. Februar 2022

Offener Brief an die Wiener Stadtregierung

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Dr. Ludwig!
Sehr geehrter Herr Vizebürgermeister Wiederkehr, MA!
Sehr geehrte Frau Stadträtin Mag. Sima!
Sehr geehrte Mitglieder der Wiener Stadtregierung!

Der geplante Bau der Lobau-Autobahn und die damit zusammenhängenden Straßenprojekte sind im Kontext des Klimanotstands zu einem Symbol für eine entscheidende Weichenstellung geworden: für eine Politik des Weiter-So oder des disruptiven transformativen Wandels.
Die Bilder und Nachrichten von der polizeilichen Räumung der besetzten Baustelle der geplanten vierspurigen Stadtstraße in Wien-Hirschstetten am 1. Februar 2022 haben uns erschüttert. Wir erklären unsere Solidarität mit den jungen Klimaschützerinnen und Klimaschützern, die sich anhand des Straßenbaugroßprojekts vor dem Hintergrund des Klimanotstands geradezu mit dem Mut der Verzweiflung für die dringend notwendige Mobilitätswende engagieren. Wir bringen unsere Anerkennung für ihren persönlichen Einsatz für eine entschlossene Transformation in Richtung Nachhaltigkeit und Klimaneutralität zum Ausdruck. Wir sprechen ihnen unseren Dank dafür aus, durch ihr Engagement gegen das konkrete Straßenbauprojekt das öffentliche Bewusstsein für die Bedeutung der gegenwärtigen Weichenstelllungen im Verkehrsbereich in den letzten Monaten geschärft zu haben.
Wir können nicht glauben, dass die Stadt Wien, die zur Klimamusterstadt werden will, mit gutem Willen keine alternativen Lösungen für die geplanten Straßenbauprojekte in der Donaustadt finden kann, die die neuen, geänderten Umstände berücksichtigen – vor allem die Dringlichkeit der Klimakrise und die Notwendigkeit eines transformativen Wandels gerade in den Bereichen Verkehr, Artenschutz und Flächenverbrauch. Anstatt ein überholtes Konzept mit der Brechstange durchzusetzen, muss es doch möglich sein, in Zusammenarbeit mit der Verkehrswissenschaft einen neuen Anlauf zu nehmen und eine Verkehrslösung zu entwickeln, bei der die neuen Klimaziele, auf die sich die Stadt Wien selbst verpflichtet hat, ernstgenommen werden. Es sind dies v.a. die Ziele, dass bis 2030 statt 27% in Wien nur mehr 15% der Wege mit dem Auto zurückgelegt werden und Wien bis 2040 klimaneutral ist.
Und wir wollen nicht glauben, dass kein Kompromiss möglich ist. Kompromisse sind für das soziale Leben unverzichtbar und gehören essenziell zur Demokratie. Der Philosoph Avishai Margalit hat daran erinnert, dass politische Kompromisse um des Friedens willen etwas sehr Gutes sind: Wir sollten „solchen Kompromissen (moralisch) größtmögliche Chancen einräumen, die um des Friedens willen geschlossen werden“ (Avishai Margalit: Über Kompromisse – und faule Kompromisse, 2011). Ein Kompromiss, eine Kursänderung ist keine Kapitulation, sondern ein
Zeichen von Stärke und Größe, mit der die Stadtregierung das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit ihrer Klimapolitik zurückgewinnen könnte.
Wir rufen die Wiener Stadtregierung eindringlich auf, gegenüber der Klimaschutzbewegung der jungen Generation den Weg des Dialogs einzuschlagen, der allein geeignet ist, eine weitere Eskalation zu vermeiden, und mit einer sachgemäßen Änderung des Straßenbauprojekts ein ermutigendes Signal einer lern- und zukunftsfähigen Politik zu setzen, das weit über Wien hinaus ausstrahlen würde.

Unterzeichner (in alphabetischer Reihenfolge):
Mag. Thomas Alge, Geschäftsführer Ökobüro – Allianz der Umweltbewegung
Dr. Anja Appel, Leiterin der Koordinierungsstelle der Österreichischen Bischofskonferenz für internationale Entwicklung und Mission
Franziska Berdich, Vorsitzende der Katholischen Frauenbewegung Erzdiözese Wien
Reinhard Bödenauer, Präsident der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien
Univ.-Prof. Dr. Ulrich Brand, Professur für Internationale Politik, Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien
Bischof Andrej Ćilerdžić, Bischof der Serbisch-Orthodoxen Diözese von Österreich und der Schweiz
Ao. Univ.Prof. Dr. Guenter Emberger, Leiter Forschungsbereich für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik, Institut für Verkehrswissenschaften, Technische Universität Wien
Assoc. Prof. Mag. Dr. Herbert Formayer, Institut für Meteorologie und Klimatologie, Universität für Bodenkultur Wien
Barbara Frischmuth, Schriftstellerin, Altaussee
PD Mag. Dr. Ernst Fürlinger, Research Lab Democracy and Society in Transition, Donau-Universität Krems
Karl-Markus Gauß, Schriftsteller, Salzburg
Dipl. Päd. PAss Markus Gerhartinger, im Namen der Konferenz der katholischen und evangelischen Umweltbeauftragten Österreichs
Univ.-Prof. Dr. Michael Getzner, Institut für Raumplanung, Technische Universität Wien
Dipl.-Ing. Dr. Katrin Hagen, Senior Scientist, Institut für Städtebau, Landschaftsarchitektur und Entwerfen, Technische Universität Wien
Abt em. Christian Haidinger, Stift Altenburg, ehem. Abtpräses der Österreichischen Benediktinerkongregation
Mag. Ferdinand Kaineder, Präsident der Katholischen Aktion Österreich
Univ.-Prof. Em. Dr. Georg Kaser, Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften, Universität Innsbruck
Univ.-Prof. Dr. phil. habil. Monika Kil, Bildungsforscherin, Donau-Universität Krems; Scientists4Future Österreich, Region Ost
Univ.-Prof. Em. DI Dr. Hermann Knoflacher, Institut für Verkehrswissenschaft, Technische Universität Wien
Univ.-Ass. DI Barbara Laa, BSc, Institut für Verkehrswissenschaften, Forschungsbereich für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik, Technische Universität Wien
Dr. Johannes Müller, Center for Energy, AIT Austrian Institute of Technology
Philippe Narval, Intendant, SQUARE, Universität St. Gallen
ÖSTERREICHISCHER BIODIVERSITÄTSRAT
Markus Palzer-Khomenko M.Sc., Institut für Geologie, Universität Wien; Koordinator Scientists for Future Wien
Dr. Christian Peer, future.lab Research Center, Fakultät für Architektur und Raumplanung, Technische Universität Wien
Univ. Prof. i. R. Dr. Roman Türk, Präsident Naturschutzbund Österreich
Weihbischof Dipl.-Ing. Mag. Stephan Turnovszky, römisch-katholischer Jugendbischof in Österreich
Univ.-Doz. Dr. Peter Weish, Universität Wien